10.09.2007

Der deutsche Rechtsstaat


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aus: Evangelisches Staatslexikon hrsg. von Roman Herzog / Hermann Kunst / Klaus Schlaich / Wilhelm Schneemelcher, Kreuz: Stuttgart, 3. Aufl.: 1987, Spalte 2806 - 2818.

Die Hervorhebungen entsprechen dem Orginal; die roten Ziffern geben den Beginn der Spalten der Originalveröffentlichung an.

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Rechtsstaat. I. Problemstellung der Geschich­te. a) Sowenig wie andere zentrale Begriffe von Staatslehre und Politik (→Demokratie I 1) be­zeichnet der R. eine apriorisch vorgegebene „Wesenheit“. Es ist daher nach den politischen und sozioökonomischen Entstehungsbedingun­gen des R.begriffs und nach seiner konkreten polit. Funktion zu fragen, auch nach allfälligem Funktionswandel und Umständen, die diesen er­klären. Vorweg ist festzuhalten, daß der R. eine Begriffsbildung der deutschen Staatslehre des 19. Jhs. ist. Dieser R. soll den Staat im Interesse der bürgerl. Gesellschaft unter obrigkeitsstaatl. Bedingungen beschränken. So unterscheidet sich der R. von vornherein von der britischen Rule of Law, die nicht nur als ein den Staat begren­zendes, diesen vielmehr auch konstituierendes (repräsentativstaatl. bzw. demokratisches) Prin­zip gemeint ist. Übersetzungen wie Etat de Droit im Französischen oder Estado de Derecho im Spanischen sind von der deutschen Staatslehre (insbes. über G. Jellinek und C. Schmitt) in­spiriert und verbinden sich z. T. (etwa in Italien, Spanien und Lateinamerika) mit der Forderung nach (vor allem ökonomischen) Rest-Freiheiten unter autoritären Regierungsformen. Wer nach der historischen Ortung des R. und seiner ge­naueren politischen Funktion fragt, wird gegen­über einer inflationären Verwendung des R.be­griffs, die diesen auch etwa auf Platos Gesetzes­staat (und damit auf die vom modernen Staat zu unterscheidende Polis) oder auf die mittelalter­liche Ordnung und deren Theorie (etwa Bractons Lehre von der Bindung des Monarchen an das Gesetz) anwendet, zur Skepsis raten. Die Aussage, im R. würden Staat und Recht „zusam­mengebracht“, mag ansprechend klingen. Sie ist jedoch banal und wenig informativ, müßte man doch vorerst wissen, wie der jeweils vorausge­setzte Staat und das gemeinte Recht (positives Recht, Naturrecht, wenn ja, welches Natur­recht?) verstanden werden. Diese Kritik gilt auch der verbreiteten Gegenüberstellung von R. und (nationalsozialist.) „Unrechtsstaat“, einer Begriffsbildung, die dazu verführen kann, die sozialwissenschaftlich-historische Analyse des NS-Regimes (seiner Entstehungsbedingungen und Wirkungsweise) durch bloßen moralischen Protest zu „ersetzen“.


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b) Wie gesagt, stellt der R. als Begriff und in der Sache eine Besonderheit des deutschen Staatsrechts dar. Das schließt es freilich nicht aus, daß sich auch anderswo politische Forde­rungen durchsetzen, die der deutschen R.idee teilweise entsprechen, wobei sie freilich in ande­ren Begründungszusammenhängen auftreten und mit anderen Namen (etwa „limited government“ oder „liberaler →Konstitutionalismus") vorgestellt werden. Die Unterschiede zwischen der deutschen R.theorie und den in anderen Staaten mit ihr vergleichbaren Konzepten sind daher weder zu übersehen noch zu übertreiben. Die Theorie des R. ist die spezifisch deutsche Variante innerhalb der bürgerl. Staatstheorie. [...]

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c) Die Anfänge der deutschen R.theorie wer­den oft auf Kant zurückgeführt, der den Staat als „Vereinigung von Menschen unter Rechts­gesetzen“ definiert. Kants Begriff des allgemei­nen Gesetzes ist auf dem Hintergrund einer individualistisch-liberalen Anthropologie und Rechtslehre zu sehen, die das Recht als Inbegriff der staatlich garantierten Verhaltensvorschriften innerhalb der bürgerl. Gesellschaft versteht. Sei­ne Theorie der Gewaltenteilung vertritt den Vor­rang der Legislative. Ihr gegenüber soll die Exe­kutive auf eine rein ausführende, die Judikative auf eine (die Exekutive) kontrollierende Funk­tion beschränkt sein. Doch kommt diesem (vir­tuell demokratischen) Konzept nach Kant sel­ber kaum praktische Bedeutung zu, soll es doch dem Bürger verwehrt sein, in bezug auf die tatsächlich bestehende Gesetzgebungsgewalt „werktätig zu vernünfteln“. Im Vormärz über­nehmen einzelne Autoren im süddeutschen Raum liberal-repräsentativstaatl. Vorstellungen des französischen Konstitutionalismus, so etwa Carl Th. Welcker, der den Rechtsstaat als „Staat der (sc. bürgerlichen) Vernunft“ bezeich­net. Seine eigentl. Prägung erfährt der deutsche R.begriff jedoch mit dem Scheitern des deutschen politischen →Liberalismus als staats­gestaltende Kraft, der sich seit 1848 – auch aus Angst vor der beginnenden politischen Artiku­lation der Unterschichten – mit dem Obrig­keitsstaat arrangiert. Im Verfassungskompromiß des deutschen Bürgertums kommt der R.idee (anders als bei Welcker) keine staatsbegrün-

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dende Bedeutung mehr zu. Der Obrigkeitsstaat ruht in sich selber, legitimiert durch das „mon­archische Prinzip", wird also durch den R. bloß nachträglich begrenzt, und zwar im Interesse des Bürgertums, das zwar auf die politische Gestal­tung des Staates, auf politische Hegemonie ver­zichtet bzw. verzichten muß, dem anderseits der Freiheitsraum zu seiner sozioökonomischen Entfaltung gewährleistet wird. Für die Grenzzie­hung zwischen Obrigkeitsstaat und bürgerl. Ge­sellschaft wird im Verfassungsrecht Preußens und des Deutschen Reiches der Vorbehalt des Gesetzes für Eingriffe in Freiheit und Eigentum maßgeblich, wobei den gewählten Kammern (Landtag bzw. Reichstag sind alles andere als Zentren polit. Macht) neben dem Monarchen und dem Herrenhaus bzw. dem Reichsrat im Gesetzgebungsverfahren wenigstens ein Mitberatungs- und Zustimmungsrecht zukommt. Als Konzept zur Beschränkung der Staatsgewalt ver­standen, bekommt der deutsche R. des 19. Jhs. den Charakter einer Defensivveranstaltung. Die­ser R. hat nach einer Formulierung O. Kirchheimers „etwas von einer Schlangenbeschwö­rung“. Die Gefahren, gegen die der R. schützen soll können von zwei Seiten drohen: vom alten Obrigkeitsstaat her, zugleich aber von einer vir­tuellen künftigen Demokratie, in der den Unter­schichten kraft des allgemeinen Wahlrechts ein maßgebl. Einfluß auf die Politik, auch gegen die Interessen des Bürgertums, zukommen könnte. In klarer Einsicht in die Entstehungsbedingun­gen der deutschen R.theorie lehnt der schweize­rische freisinnige Politiker und Jurist Simon Kaiser 1859 die Übertragung des R.begriffs auf die Schweiz ab. „Bevor wir ihn aber allgemein verwerfen, müssen wir dessen Festhaltung im Interesse der Bürger für politisch ratsam halten, solange der gemeinsame Wille nicht durch alle Bürger gebildet, sondern von Oben oktroyiert wird; so in Deutschland ...“ Kaiser ordnet also den R. dem Obrigkeitsstaat zu und hält ihn in der liberalen Demokratie für obsolet. Nach der gescheiterten Revolution wird die R.theorie vor allem durch Fr. J. Stahl bestimmt. Nach ihm soll der Staat „die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittl. Ideen von Staats wegen, also nicht weiter verwirkli­chen (erzwingen), als es der Rechtssphäre ange­hört, d. i. nur bis zur notwendigsten Umzäu­nung. Dies ist der Begriff des Rechtsstaates . . . er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, diesel­ben zu verwirklichen.“ Stahls R. formalisiert und domestiziert die staatl. Wirksamkeit und ist zugleich – trotz aller weltanschaulichen Kritik am Liberalismus – in eine Gesamtkonzeption eingefügt, die die (u. a. religiös legitimierte) bür­gerl. Gesellschaftsordnung verteidigt, wogegen der Volksstaat etwa im Sinne Rousseaus als „absolute Verwirrung“ bezeichnet wird. O. Bähr verlangt ein Grundgesetz (Verfassung), das


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die Rechte und Pflichten abzugrenzen habe, „mit denen das von den leitenden Organen ver­tretene Staatsganze den einzelnen Gliedern ge­genübersteht“ und das die Normen festlegen sol­le, „nach welchen sich die Ordnung innerhalb des Staatsorganismus bewegt“. Im übrigen be­tont er v. a. das Legalitätsprinzip und fordert die Kontrolle von Regierung und Verwaltung durch die Zivilgerichte auf Grund detaillierter G.e. R. v. Gneist postuliert Verwaltungsgerichte und verbindet die R.idee insbes. mit der „Selbstver­waltung“, worunter er die ehrenamtl. Mitwir­kung des Besitzbürgertums versteht (dem er im Unterschied zu den Unterschichten die Fähig­keit zutraut, als Quelle des „Rechtsbewußtseins“ und des „Volksfriedens“ zu wirken).

O. Mayer definiert den R. als eine bes. „Art“, in der der Staat tätig wird, und vertritt das Prinzip des Vorrangs des G. insbes. gegenüber der Verwaltung (→Gesetzmäßigkeit der Verwal­tung). „Der R. bedeutet tunlichste Justizförmigkeit der Verwaltung“ (auf Grund umfassender Gesetzgebung). Aber nicht völlige: außerhalb des Vorbehaltsbereiches des G. (Eingriffe in Freiheit und Eigentum) wirkt sie „aus eigener Kraft, nicht auf Grund des G.. Die Betrach­tungsweise Mayers wird gegen Ende des Jhs. die herrschende. So bezeichnet etwa R. Thoma das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung als „nicht das Ganze, aber das Fundament des Vor­stellungskomplexes, den uns Heutigen das Wort R. auslöst“. Allen erwähnten Autoren ist es ge­meinsam, daß sie den überlieferten Obrigkeits­staat, der keine Parlamentarisierung des polit. Systems zuläßt (und u. a. auch als verläßl. Boll­werk gegen systemtranszendierende Tendenzen der Sozialdemokratie wirkt), bejahen und bloß rechtsstaatlich formalisieren wollen. Im übrigen soll der in diesem Sinne gemäßigte Staat durch­aus die wirtschaftl. Entwicklung aktiv fördern –

auch in Übersee , was vor allem in den vom G. nicht erfaßten Formen der Kooperation von Staatsbürokratie und Interessengruppen (→Ver­bände) geschieht.

Zur Zeit der Weimarer Republik zeichnet sich ein Funktionswandel des R. ab. Nach dem Weg­fall der Monarchie und der von ihr u. a. gelei­steten Garantie des sozioökonomischen Status quo wendet sich die R.theorie nun vorab gegen die Demokratie, die (in nachwirkender deutscher Obödienzgesinnung und in tiefgrei­fendem Mißtrauen gegen die „Massendemokra­tie“) weitgehend mit der drohenden „Tyrannei von unten“ gleichgesetzt wird. Immerhin ist das Bild nicht einheitlich. In H. Kelsens „Reiner Rechtslehre“, die aus der (rein normativ verstan­denen) Rechtswissenschaft alle sozialwissenschaftl., politischen und psychologischen Frage­stellungen aussondern will, gilt der R. als „Staat, dessen sämtl. Akte auf Grund der Rechtsord­nung gesetzt werden“. Kelsen identifiziert Staat und Recht und macht geltend, daß die Wirksam­keit des Staates nur auf Grund der Rechtsord­nung als staatl. verstanden werden könne. Der


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Staat wird „ein König Midas, dem alles, was er ergreift, zu Recht wird“, womit jeder Staat zum R. wird. Der Begriff des R. ist m. a. W. mit dem des Staates gleichbedeutend. Kelsens „Reine Rechtslehre“ will die Rechtswissenschaft dem Streit der Weltanschauungen entziehen. Bei aller methodischen Unzulänglichkeit der Reinen Rechtslehre, die die wechselseitige Bedingtheit und Bezogenheit von Recht und gesellschaftl. Wirklichkeit auszuklammern sucht, statt sie zu analysieren, ist nicht zu übersehen, daß sich Kelsens Rechtspositivismus mit dem Bekennt­nis zum demokratischen Gesetzgebungsstaat mit weitgehender Gestaltungsfreiheit des Gesetzge­bers“ verbindet. Gleiches gilt auch für den Rechtspositivismus Gustav Radbruchs, und beide, Kelsen und Radbruch, verteidigen die (in der Weimarer Republik von der politischen Rechten nicht nur wegen konkreter Mißstände kritisierte, sondern grundsätzlich diskreditierte) Parteiendemokratie. Eine einsame Sonderstel­lung in der R.theorie zur Zeit der Weimarer Republik nimmt Hermann Heller ein, der ei­ne „materielle“ Theorie des „sozialen Rechts­staates“ entwirft, die auch den sozialstaatl. Ge­halt der WV zur Geltung zu bringen sucht. Hel­ler vertritt die Auffassung, daß der Untergang der Demokratie in der Diktatur nur dann auf­gehalten werden könne, wenn der bürgerliche R. mit seinen ideellen, für die Demokratie unerläß­lichen Grundrechten zum „sozialen“ R. weiter­entwickelt werde. Dazu fordert er die (freilich nicht im einzelnen ausdefinierte) „rechtsstaatl. Vergesetzlichung der Wirtschaft“, die „nichts anderes als die Unterordnung der Lebensmittel unter die Lebenszwecke und damit die Voraus­setzung bedeute für eine Erneuerung unserer Kultur“. Hellers R.verständnis geht von der Überlegung aus. daß die Rechtssicherheit des bürgerlichen R. im Sinne der Sicherheit des Ei­gentums und der Verträge noch keine existenzielle Sicherheit des Menschen gegenüber unkon­trollierter wirtschaftl. Macht und dynamischen Prozessen wirtschaftl. Entwicklung verbürgt, weshalb diese dem Primat der demokratischen und sozialen Politik unterzuordnen sei. Die un­ter Kritik der „formalistischen R.theorie“ des Positivismus zur Zeit der Weimarer Republik entwickelte „Materialisierung“ der R.idee be­wegt sich indessen in der bei weitem überwie­genden Tendenz in einer Heller entgegenge­setzten Richtung. Sie sucht dem in der WV dem Gesetzgeber verliehenen gesellschaftl. Verände­rungspotential zu begegnen, den R. auf ein (wirtschafts-)liberales Verständnis festzuschreiben und der konsequenten Verwirklichung der sozi­alstaatl. Bestimmungen der WV die Legitimität und gar die Verfassungsmäßigkeit abzusprechen. Damit verbindet sich eine dezidiert antidemo­kratische Tendenz. Carl Schmitt, der schon wegen seiner Wirkung hier an erster Stelle zu nennen ist, definiert den R. von einem grundle­genden Verteilungs- und einem Organisations­prinzip her: „Das Verteilungsprinzip – prinzi-

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piell unbegrenzte Freiheit des Einzelnen, prinzi­piell begrenzte Machtbefugnis des Staates – fin­det seinen Ausdruck in einer Reihe von sog. Grund- oder Freiheitsrechten; das Organisati­onsprinzip ist in der Lehre von der sog. Gewal­tenteilung enthalten, d. h. der Unterscheidung von .. . Legislative, Exekutive und Justiz.“ Wäh­rend die ideellen Freiheitsrechte in Schmitts Lehre von der „identitären Demokratie“ (→De­mokratie) völlig relativiert werden, soll das Ver­teilungsprinzip die grundsätzl. Vorordnung der Wirtschaft gegenüber der demokratischen Poli­tik gewährleisten. Die Gewaltenteilung richtet sich vorab gegen die Legislative, die darauf be­schränkt werden soll, allgemeinabstrakte G.e. zu erlassen, womit sozialgestaltende Maßnahmege­setze ausgeschlossen werden. Nicht der demo­kratische Gesetzgeber, sondern die Exekutive, in letzter Instanz die Diktatur sollen in der Krise den Bestand der Gesellschaft und des kapitalisti­schen Wirtschaftssystems garantieren. Daß gera­de letzteres durch den R. geschützt sein soll, ergibt sich auch aus Schmitts Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz, mit der die positivrechtl. Verfassung zum bloßen „Ver­fassungsgesetz“ herabgesetzt wird, dem die eigentl. Verfassung als einheitliche existentielle „Entscheidung“ vorausgehe, die für die Weima­rer Republik als „Entscheidung für den bisheri­gen Status quo, d. h. für die Beibehaltung der bürgerl. Gesellschaftsordnung“ verstanden wird. Das führt, analog zur Funktion früherer Natur­rechtsideologien, zu einer Relativierung des po­sitiven Rechts. „Die Verfassung ist unantastbar, die Verfassungsgesetze dagegen können während des Ausnahmezustandes suspendiert und durch Maßnahmen des Ausnahmezustandes durchbro­chen werden.“ Dieselbe Unterscheidung gestat­tet es auch, das formelle Verfassungsrecht einsei­tig im Sinne der postulierten Grundentschei­dung auszulegen und widerspenstige Verfas­sungsnormen in ihrem Gehalt wegzuinterpretieren. Damit wird das pos. Recht aufgelöst, im Sinne der jeweiligen Anforderungen der „Systemrationalität“ dynamisiert, wobei freilich darauf hinzuweisen ist, daß sich die Verdoppe­lung des Rechts in bloßes G. und diesem über­geordnete Entscheidungsgrundlagen (etwa in der Formel „Recht und Gesetz“) in der Weimarer Justiz schon vor Schmitt vielfach durchgesetzt hat, auch von anderen Rechtslehrern unter­stützt, von denen hier bloß noch Erich Kauf­mann mit seinem „christlich“-institutionell ver­standenen Naturrecht erwähnt sei, das in Aus­übung des vom Reichsgericht angemaßten richterl. Prüfungsrechts gegenüber dem Reichs-Ge­setzgeber zur Geltung gebracht werden soll. Nicht die (für den parlamentarischen Gesetz­gebungsstaat eintretenden) Rechtspositivisten, sondern die Vertreter des „materiellen R.“ sind es gewesen, die – soweit Rechtsdogmatik über­haupt dazu beiträgt, Geschichte zu machen – der Rechtsideologie des →Nationalsozialismus den Weg bereitet haben. 1932 bekennt sich


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O. Koellreutter zum „nationalen R.“, 1933 Schmitt zum „nationalsozialistischen R.“, Heinrich Lange postuliert 1934 unter dem Buchtitel „Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat“ die Überordnung der nun im Sinne der NS-Ideologie vorausgesetzten „Rechtmäßigkeit“ über die „Gesetzesmäßigkeit“ staatl. Handelns. Auch wenn die Verwendung des R.begriffs in der Folge zurücktritt, bleibt die Kontinuität zu „materiellen“ R.theorien der Rechten bestehen: in der mehr und mehr radikalisierten Relativie­rung des pos. Rechts durch „das im Volk leben­dige ungeschriebene Recht“, das in „unbegrenz­ter Auslegung“ aktualisiert wird. Freilich tritt nun an die Stelle der Gewaltenteilung die gewal­tenmonistische Diktatur. Aber auch dieser Un­terschied relativiert sich etwas, wenn man die a-demokratische bzw. antidemokratische und insbes. antisozialdemokratische Funktion der Gewaltenteilungslehre der deutschen Rechten mitbedenkt. 1945 veröffentlicht Werner Kägi unter dem Titel „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“ einen (nachher in zahlreichen Schriften modifizierten) Beitrag zur R.theorie, der dann auch die Diskussion in der Bundesrep. Dtschld. nachhaltig beeinflussen wird. Trotz aller Polemik gegen die „Dynamik des Rechts“ und insbes. gegen den Dezisionis­mus Schmitts teilt Kägi wichtige Positionen mit diesem, so das für den R. grundlegende „Verteilungsprinzip“. „Die Logik der Verf.“ und die „Logik der Demokratie“ werden als antago­nistisch verstanden, die „Selbstherrlichkeit des Normativen“, ewige „Ordnung Werte“, die „Herrschaft des Rechts“ dem „Voluntarismus“ gegenüberstellt, der v. a. als Folge des demokrat. Mehrheitsprinzips dinghaft gemacht wird. Durchweg fehlt eine hist. Analyse der behandel­ten Theorien, was zB dadurch zum Ausdruck kommt, daß ausgerechnet Sieyes als Vertreter eines exzessiven „Demokratismus“ vorgestellt wird.

II. Der R. im GG. 1. Einleitung. Der Begriff des R. wird im GG eher nur beiläufig verwendet. Art. 28 Abs. 1 hält fest, daß die Länderverfassun­gen „den Grundsätzen des republikanischen, de­mokratischen und sozialen R. im Sinne dieses GG entsprechen“ sollen, wobei dasselbe gewiß auch für die Bundesrepublik vorausgesetzt wird. Der Text selber schließt die Postulierung eines der Verf. vorausgehenden „Rechtsstaatsprinzips“ i. S. einer „Grundentscheidung“ oder einer über­geordneten „Wertordnung“ aus. Nach wie vor bleibt der Gehalt der Formel vom „demokrati­schen und sozialen R.“ umstritten. Der von Hel­ler entlehnte Begriff des „sozialen R.“ legt eine Interpretation nahe, nach der diese Formel „das Fernziel einer Umstrukturierung der gesamten Wirtschaftsgesellschaft in der Richtung“ einer demokratischen „Planwirtschaft im Interesse der Gesamtgesellschaft“ bezeichnet (W. Abend­roth) bzw. eine solche Entwicklung mindestens nicht ausschließt, womit die Ausgestaltung der


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Wirtschaft jedenfalls offen bleibt. Diese Inter­pretation wird in der herrschenden Meinung und Praxis freilich nicht wegweisend. Das BVerfG bekennt sich schon in den Anfängen seiner Praxis zum „vorverfassungsmäßigen Ge­samtbild“ des R., um sich dann explizit auf die „Tradition des liberalen bürgerl. R.“ zu berufen bzw. den R. als „Grundentscheidung“ oder „lei­tendes Prinzip“ zu bezeichnen, womit tendenzi­ell die Schmittsche Unterscheidung von „Verf.“ und „VerfG“ und damit der Dualismus von „Recht und G.“ wiederaufgenommen wird. Ähn­lich wirkt in der Folge die Beschwörung der „freiheitl. und demokratischen Grundordnung“, die, statt „die Verfassung als einen elementaren Basiskompromiß der Vernunft“ zu begreifen, „auf dessen Grundlage und in dessen institutio­nellem Rahmen auch tiefgreifende politische Auseinandersetzungen friedlich ausgetragen werden können“ (Denninger), die These einer dem positiven Verf.recht vorausgehenden materialen, in sich geschlossenen Überverf. nahelegt. 1953 stellt E. Forsthoff den normativen Gehalt der sozialen Komponente des R. in Frage, um kompromißlos für den „R.“ zu optieren, der im Sinne der Verf.lehre Schmitts verstanden wird. In der Zeit des Wirtschaftswachstums verliert der Streit über die →Sozialstaatlichkeit indessen an Schärfe. Nach einem überparteilichen Kon­sens besteht nun die Aufgabe der Politik vor allem in der Förderung des Wirtschaftswachs­tums, dessen Erträge einen raschen Ausbau staatl. Sozialleistungen auf den verschiedensten Gebieten zunächst problemlos gestatten.

2. Die einzelnen Elemente. a) Zum R. gehört die →Gewaltenteilung, die den staatl. Aufbau gliedert und ein System von politischen und rechtl. Kontrollen schafft.

b) R. heißt →Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die durch eine umfassende →Verwaltungsgerichtsbarkeit garantiert wird. So ist der R. wesentlich Gesetzesstaat, wobei der Bereich des G. nicht auf die Fälle zu beschränken ist, wo der Staat in Freiheit und Eigentum eingreift, viel mehr grundsätzlich auch (wenigstens in den Grundzügen) das Organisationsrecht und sozialstaatl. Leistungen erfaßt. Damit sind weder (rechtl. eingegrenzte) Verordnungskompetenzen noch Ermessensspielräume der Exekutive bestritten, wie es auch Bereiche staatl. Politik gibt, die sich höchstens sehr beschränkt durchnormie­ren lassen (zB die Außenpolitik).

c) Das G. ist seinerseits an die →Verfassung gebunden, die vor allem in den Grundrechten materiale Wertmaßstäbe aufstellt und diesen auch den G.geber unterwirft. Der Vorrang der Verf. gegenüber dem G. wird in der Bundesrep. Dtschld. durch eine weit ausgestaltete →Verfassungsgerichtsbarkeit garantiert, der es freilich verwehrt bleiben müßte, sich unter Berufung auf das „Recht“ über das „Gesetz“ hinwegzusetzen.

d) Zentrale Bedeutung kommt den →Grundrechten zu. die im „demokratischen und sozialen R.“ jedoch nicht einseitig negativ, als Abwehr-

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rechte gegen den Staat, i. S. der Freiheit vom Staat, verstanden werden dürfen. Die ideellen Freiheitsrechte gehören vielmehr zu den unerläßl. Konstitutionsbedingungen der Demokratie. Ohne →Pressefreiheit, Meinungsäußerungs-, Vereinigungs- und →Versammlungsfreiheit gibt es keine demokratische Partizipation des Bürgers am Gemeinwesen, die durch die Verf. gerade auch als kritische Partizipation geschützt wird. Sodann gilt es, den ehemals einseitig libe­ral verstandenen R. zum sozialen R. weiterzu
entwickeln. Das Grundproblem besteht darin,
die gesellschaftl. Bedingungen dafür zu verbes­sern oder erst zu schaffen, daß die freiheitl. Existenz, die der R. – zumal in den Grundrech­ten – zu sichern beansprucht, für die große Zahl der Menschen als wirkl. Chance Bestand hat. Ohne damit den berechtigten Teilgedanken der grenzziehenden Funktion der Grundrechte preiszugeben, gilt es m. a. W. zu erkennen, daß die dem R. entsprechende gesellschaftlich-politi­sche Wirklichkeit nicht einfach Gegebenheit, sondern vielmehr gesellschaftspolitische Aufga­be ist. Diese schließt eine systemwandelnde Transformation der Wirtschafts- und Eigentums­ordnung nicht aus, auch nicht nach dem GG, das neben der (in ihrer Bedeutung für den R. zuweilen überbetonten) Eigentumsgarantie und dem Schutz des Erbrechtes eine (freilich weithin sozusagen in Vergessenheit geratene) weitrei­chende Ermächtigung zu Sozialisierungsmaßnahmen enthält.

3. Offene Fragen. Ausblick. Nach der vor gut hundert Jahren von Simon Kaiser vertretenen Auffassung wäre der Begriff des R. in der De­mokratie obsolet. In der Tat gehören die Merk­male, die dem R. zugeschrieben werden (Gewal­tenteilung. Legalitätsprinzip, Grundrechte), zu den Grundvoraussetzungen jeder Demokratie, die ihren Namen verdient. Die Verwendung und die Popularität von Begriffen entscheidet sich indessen nicht nur nach wissenschaftl., sondern weithin auch nach politischen Motiven. So ist der Begriff des R., wie Erfahrung lehrt, vor allem immer dann hervorgehoben und gegen die Demokratie ausgespielt worden, wenn es darum ging, die kapitalistische Eigentums- und Wirt­schaftsordnung gegen „demokratische Exzesse“ zu schützen. Das ist hinzunehmen und auch nicht weiter schädlich, solange dem positiven Verf.recht nicht ein „höheres Recht“ oder in analoger Funktion verwendete Größen (etwa die „Natur der Sache“ im Sinne der „Systemlogik“ oder der „Sachgesetzlichkeiten“ bzw. „-zwänge“ der gegebenen Wirtschaftsordnung) vorgeordnet und zur eigentlich maßgebenden Deduktionsba­sis erhoben werden. Zu schweren Bedenken gibt hingegen ein Bedeutungswandel des R.begriffs Anlaß, der etwa seit 1975 aufgekommen ist, frei­lich vorerst mehr in der politischen Auseinan­dersetzung und weniger in der wissenschaftl. Diskussion, ein Begriffswandel, der die R.idee nicht mehr, wie bis dahin, gegen den Staat, son­dern nun gegen Private wendet, nicht nur gegen

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Terroristen, sondern auch etwa gegen Teilneh­mer von Demonstrationen, an denen es zu Sach­beschädigungen kommt, sowie gegen an Gelän­debesetzungen Beteiligte. Von der These ausge­hend, wer den R. zuverlässig schützen wolle, müsse bereit sein, „bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt wird“ (Hel­mut Schmidt), wird dann im Namen des R.(!) mehr und mehr eine Verstärkung des polizeili­chen Repressions- und Überwachungsinstru­mentariums gefordert. Damit wird der Begriff des R. in sein Gegenteil verkehrt: „nicht mehr Schutzschild des Einzelnen in seiner Rolle als Störer oder Rechtsbrecher gegen unbegrenzte staatliche Prävention und Repression, sondern Legitimierung extensiver Sicherheitsmaßnahmen“ (F. Endemann). Oder ist dieser Begriffs­wandel vielleicht doch nur konsequent? Er wäre es, wenn der eigentliche Kern des R. wirklich im Schutz des sozioökonomischen Status quo beste­hen sollte. Der Begriff des R. bleibt jedenfalls im Meinungsstreit. Wissenschaft kann diesen nur beschränkt beeinflussen.

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Richard Bäumlin



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