01.09.2007

Warum die Deutschen keine >Marseillaise< haben

aus: Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik Zur verfassungsrechtlichen und politischen Stellung und Funktion des Bundesverfassungs­gerichts hrsg. von Mehdi Tohidipur, Frankfurt/M., 1976



Oskar Negt

Warum die Deutschen keine >Marseillaise<>

I.

Wer den Versuch macht, nach der nun schon fast vergessenen, aber Mitte der sechziger Jahre bis in das Denken und Ver­halten liberaler Kreise eingedrungenen Aufbruchsbewegung von Studenten und Jugendlichen das gesamtgesellschaftliche Klima der Bundesrepublik näher zu charakterisieren, wird kaum daran vorbeikommen, es im Begriffshorizont der Re­stauration zu deuten. Der Radikalenerlaß ist, gemessen an der großen Zahl viel weniger ans Licht der Öffentlichkeit treten­den, gleichwohl äußerst folgenreichen Veränderungen der Verfassungswirklichkeit und an den Verschiebungen des Rechtszusammenhangs zugunsten der Staatsräson, nur die Spitze eines Eisbergs. Die Extremistenhysterie verweist nicht zuletzt dadurch, daß sich manche der Initiatoren mittlerweile selber von ihren Auswirkungen betroffen zeigen, deutlich auf die politische Strategie, welche die häufig disparaten, ja widersprüchlichen Einzelfälle zusammenfaßt und in ihrem wesentlichen Gehalt durchsichtig macht. Die »deutsche Frage« ist wieder aktuell, wenn auch unter veränderten Vor­zeichen; und sie war immer eine Frage der Restauration.1

Warum ist die deutsche Geschichte so reich an Restauratio­nen? Eine vielleicht nicht voll befriedigende, aber doch an vielen Symptomen empirisch belegbare Antwort lautet: Weil es auf deutschem Boden nie die konkrete Erfahrung einer wirklichen, auch in Volkstraditionen und in der Kultur der Gesamtgesellschaft sich niederschlagenden Revolution gegeben hat.

Die Marseillaise, dieses unfriedfertige Kampflied der Fran­zösischen Revolution, wird noch heute von Bürgerlichen und Arbeitern gleichermaßen gesungen, und der 14. Juli ist auch

* Geringfügig erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich am 4. 4. 1976 im Norddeutschen Rundfunk gehalten habe,

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ein Festtag der französischen Arbeiterklasse. Die deutsche Nationalhymne dagegen ist nicht das Resultat eines kollekti­ven Kampfes, sondern der individuellen Sehnsucht nach Ein­heit und Freiheit; sie kompensiert die politische Restauration, in der sie entstanden ist, allenfalls musikalisch.

Die gegenwärtige Restaurationsphase aus der ökonomischen Krisensituation allein erklären zu wollen, ist nicht möglich; gerade in einem Lande, in dem in den letzten 50 Jahren nichts so konstant war wie die gesellschaftlichen Katstrophen, wo kein Ansatz eines Befreiungsversuchs autonom zu Ende ge­führt wurde, schlägt die Geschichte bis in die Alltagsrealität durch. Daß es der deutschen bürgerlichen Klasse an eigenen revolutionären Traditionen fehlt, aus denen sie ihre Identität im Kampf um demokratische Freiheitsrechte, in der kulturel­len und politischen Sprache, in kollektiven Symbolen und in Liedern hätte gewinnen können, trägt bei zur Aufhellung dessen, was man gegenwärtig in der Bundesrepublik verharm­losend »Tendenzwende« nennt. Diese »Tendenzwende« hat ihre politischen und ideologischen Vorläufer.

Bereits Luther und Schiller, jeder auf seine Weise mit der Gloriole des Freiheitsdenkers umgeben, bringen die Gebro­chenheit dieser Erfahrungen sehr genau zum Ausdruck. Die große Bauernrevolution, in der es um die Wiederherstellung uralter, von den Fürsten und der korrupten Kirche mißachte­ter Lebensrechte der Bauern ging, erscheint in der kraftvollen Darstellung Luthers als eine Zusammenrottung wilder Hau­fen, die von religiösen Schwärmern angeführt und verführt werden; solange es gegen das »rasende Wüten« der römischen Pfaffen ging, wußte Luther »keinen besseren Rat und keine wirksamere Arzney, dem schändlichen Spiel ein Ende zu machen, als mit Waffen, nicht mit Worten [zu strafen], so wie wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das ganze Geschwärm der römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut?« Luther schreckt jedoch zurück, als er das von ihm selber geschürte Feuer sich ausbreiten sieht; als er erkennt, daß die Einheit von Wort und Waffe genau das ist, was die verstreuten Bauernrevolten, Landpfarrer, Handwerker sowie die proletarischen

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Schichten der Städte mit dem in seiner Existenz gefährdeten niederen Adel in eine Front zusammenzuschließen droht. Er, der den Bauern die Bibel in ihrer Sprache zu lesen ermöglichte und auf den sie anfangs ihre Hoffnungen setzten, stellt dem Adel und der staatlichen Obrigkeit einen kirchlichen Freibrief aus für die Ausrottung der Bauern; denn es geht nicht nur um Sieg, sondern um Vergeltung. Man solle sie »zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wo jeder kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muß. [. . .] bitten sollen wir für sie, daß sie gehorchen; und wo nicht, so gilt hier nicht viel Erbarmen. Lasset nur die Büchsen unter sie sausen, sie machens sonst tausendmal ärger.«

Aber selbst als Revolutionen in den Ausmaßen des großen Bauernkriegs gar nicht zu befürchten waren, erschien den inzwischen aufgestiegenen Bürgern die Eigeninitiative des Volkes - und das bedeutete damals wesentlich: der bürgerli­chen Klasse - als etwas schlechthin Bedrohliches, Zerstöreri­sches, als eine gesellschaftliche Naturkatastrophe. In dem wohl berühmtesten deutschen Gedicht, das für jedes Haus, für jeden Schüler und Lehrer geeignete Sinnsprüche bereit­stellte, in Schillers Lied von der Glocke, steht der »heiligen Ordnung«, dieser »segensreichen Himmelstochter«, die War­nung des Dichters gegenüber: »Wenn sich die Völker selbst befrein, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.« Schiller kon­frontiert dem organischen, behutsamen Zerbrechen der Form, das nur der Meister mit »weiser Hand, zur rechten Zeit« vornehmen könne — dies kann nur als Hinweis auf den kom­petenten Staatsmann, der allenfalls eine »Revolution von oben« ins Werk setzt, verstanden werden - den Aufruhr, die rohe Gewalt, die entsteht, wenn das Volk zur Selbsthilfe greift. »>Freiheit und Gleichheit hört man schallen, der ruhige Bürger greift zur Wehr, die Straßen füllen sich, die Hallen, und Würgerbanden ziehn umher.«

Überaus tief geht die Verdrängung der organisierenden, gerade auf die Beseitigung des Chaos des Ancien régime gerichteten Kraft der Revolution; schon einem Zeitgenossen der Französischen Revolution fällt es schwer zu begreifen, daß der ruhige, in Arbeit und Besitz durch Freiheitsrechte gesi­cherte Bürger, der sich nicht mehr vor der Willkür der »Würgerbanden« feudaler und absolutistischer Gewaltherr-


scher fürchten muß, Forderung und Resultat eben der Revolu­tion, der Selbstbefreiungsaktion der Völker, ist.2 Diese Fetischisierung von Ruhe und Ordnung ist um so erstaunlicher, als Schiller in den Räubern, die sich auf eine Vorlage des republikanisch gesinnten Dichters Schubart stützten, der, wie er wußte, im württembergischen Staatsgefängnis auf dem Hohenasperg saß, noch sehr genau die wirklichen Feinde von Gesetz und Ordnung kannte. Das »In tyrannos« hat einen eindeutigen Adressaten.

II.

Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich nicht nur als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches; sie hat in vielfacher Hinsicht auch das Erbe der deutschen Geschichte angetreten, wenig verarbeitet, häufig verdrängt und verzerrt. Es ist des­halb keineswegs zufällig, daß ein Franzose an Bekanntes erinnern mußte. In der Paulskirche, dem Versammlungsort des ersten deutschen Parlaments, hielt Alfred Grosser, ein eher konservativer französischer Demokrat, am 12. Oktober 1975 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deut­schen Buchhandels eine Rede, in der er auf zwei gefährliche Tendenzen in der Bundesrepublik hinwies: auf die Glorifizie­rung von Staat und Ordnung und auf die Selbsttäuschung, als seien Faschismus und die Auszehrung der demokratischen Grundrechte ein Produkt von Extremisten. Er sagte: »Viel­leicht bin ich zu sehr Franzose oder denke ich zu sehr an 1933, aber es scheint mir doch, als ob in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat die Rede sei, und immer weniger von der Verteidigung der Grundfreiheiten gegen den Staat.« Ein halbes Jahr später hat Grosser seinen Vorwurf, daß die größere Gefahr für die Demokratie vom Zentrum der Gesellschaft her drohe und nicht von den radikalen Randgruppen, noch verschärft.

Wer in Deutschland von der Bedrohung der Demokratie spricht, muß in der Tat, will er nicht alle geschichtliche Erfahrung in den Wind schlagen, in erster Linie vom Staat reden. Erschrocken zeigten sich zwei Justizminister von Lan­desregierungen, Ulrich Klug und Dieter Posser - der eine ein um die Erhaltung liberaler Restpositionen bemühter Libera-


1er, der andere Sozialdemokrat, bekannt geworden als Vertei­diger in KPD-Prozessen - über Form, Inhalt und Resultat der Überprüfungen von 500 000 Personen, u. a. gestützt auf Be­fragungen von Nachbarn und Arbeitskollegen, wobei heraus­kam, daß nur etwa 300 von ihnen in den öffentlichen Dienst nicht aufgenommen werden konnten. »Das haben wir nicht gewollt!« erklärten beide und leiteten damit eine Serie von Schuldbekenntnissen führender liberaler und sozialdemokra­tischer Politiker ein, die die Radikalenerlasse mit initiiert und praktiziert hatten. Sind die, welche die Ministerpräsidentenbe­schlüsse von 1972 mitformuliert und befürwortet haben, nicht Herr der Folgen und Absichten ihrer Handlungen? Ich ver­mute: nein.

III.

Es ist das fehlende oder verdrängte Bewußtsein von der Geschichte des eigenen Landes, das viele an der Erkenntnis hindert, daß panische Revolutionsfurcht das politische Selbst­verständnis des deutschen Bürgertums prägt und auch heute noch das Verhalten der staatstragenden Parteien und den Staatsapparat bestimmt. Einem aufgeklärten Franzosen oder Italiener muß es schwerfallen einzusehen, daß ein Lokomotiv­führer, der der DKP angehört, den Staat der Bundesrepublik gefährde, wo in Italien und Frankreich doch ganze Städte und Regionen in der Verwaltung der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei sind.

In der hektischen Radikalenfurcht spielt sicherlich, wie Schelsky angedeutet hat, eine Rolle, daß das, was in der Zeit der Protestbewegungen vollständig auseinanderfiel: die politi­sche Radikalität an den Hochschulen und Schulen und das Verhalten der Arbeiter (die Mitte der sechziger Jahre abweh­rend reagierten), unter den veränderten Bedingungen wach­sender Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, vor allem der Ar­beitslosigkeit, zu neuen Kampfformen verschmelzen könnte. Aber ökonomische und sozialpsychologische Erklärungen, die sich auf den gegenwärtigen Krisenzusammenhang be­schränken, greifen zu kurz. Die kollektiven Verfolgungsäng­ste, welche die Neigung zur staatsautoritären, ja totalitären Transformation der bürgerlich-repräsentativen Demokratie

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haben, sind nicht neu; sie ziehen sich durch die deutsche Geschichte und sind vermutlich ein Produkt des gebrochenen politischen Selbstbewußtseins des deutschen Bürgertums.

Im Vergleich zu Frankreich und England ist es ein charakte­ristisches Merkmal der Geschichte des deutschen Bürgertums, daß es ihm nicht gelungen ist, sich in einer selbstbewußten revolutionären Aktion von der feudalen Gewaltherrschaft und vom absolutistischen Staat zu befreien und sich als autonome politische Klasse zu konstituieren; erst dadurch hätte es sich die objektive Möglichkeit geschaffen, liberale Freiheitsrechte als seine eigene Angelegenheit zu betrachten. Dieser Konstitu­tionsmangel hat viele Gründe. Einer davon ist, daß das deutsche Bürgertum nicht die Kraft in sich hatte, mit der Durchsetzung eigener ökonomischer und politischer Klassen­interessen das allgemeine Problem der territorialen Einheit und der nationalstaatlichen Identität zu lösen. Die in die »machtgeschützte Innerlichkeit« (Thomas Mann) gewendete Identitätssuche, die ewige Irredenta, die »unerlösten« Gebiete an allen Grenzen, die Tatsache, daß fremde Truppen über Jahrhunderte hinweg auf deutschem Boden sich festsetzten, schließlich der verpaßte Anschluß an den kolonialen Imperia­lismus der ersten Stunde - all dies hat dazu beigetragen, daß sich ein »von unten« ausgehendes, befriedigtes und materiell gesättigtes Nationalbewußtsein nicht ausbilden konnte. Die These von der »verspäteten Nation« ist nur zum Teil richtig; im Grunde hat es nie eine deutsche Nation gegeben.

Was das Bürgertum nicht leistete, oblag dem preußischen Staat, der sich praktisch alternativlos zum deutschen Gesamt­staat erweiterte. Auf dem »preußischen Wege des Kapitalis­mus« (Engels) sind die feudalen Gewalten nicht zerstört, sondern in den Staatsaufbau assimiliert worden. Der Staat stellte unter dem Druck ökonomischer Zwänge nationalstaat­liche Einheit mit Blut und Eisen her und leitete schon nach der katastrophalen Niederlage von Jena und Auerstedt eine »Re­volution von oben« ein, die sich alsbald als eine subtile Ausprägung von Gegenrevolution erwies; sie band die kriti­schen Teile der bürgerlichen Intelligenz in zweifacher Weise an den Staat: einerseits mit praktischen Reformaufgaben, die jeder möglichen bürgerlichen Revolution von vornherein die Spitze abbrachen, andererseits durch Aufstiegsorientierungen


der literarischen und philosophischen Intelligenz zur höfi­schen Gesellschaft hin, die ihr einziges Publikum darstellte, Zwischen Bürgertum, das nach Nobilitierung, nach einer Art Hoffähigkeit zweiter Klasse strebte, und den absolutistischen Staat schob sich eine sehr leistungsfähige Bürokratie, in Gang gebracht von so bedeutenden Köpfen wie Stein und Harden­berg, Scharnhorst, Boyen und Humboldt.

IV.

Von dieser - durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung fort­gesetzten - »Revolution von oben« waren selbst die deutsche Arbeiterklasse und ihre politische Organisation, die Sozialde­mokratie, im Innern betroffen. Daß es der bürgerlichen Klasse nicht gelang, sich vom absolutistischen Staatszusammenhang zu emanzipieren und zu einer autonomen politischen Kraft zu entwickeln, hat dazu geführt, daß auch die Sozialdemokrati­sche Partei und die Gewerkschaften ihren Kampf von Anbe­ginn staatsbezogen führten - die Partei unter den Parolen: Volksstaat, Zukunftsstaat; die Gewerkschaften im Interessen­zusammenhang des »Gegenwartsstaates«. Denn jede Kon­frontation mit dem Klassengegner mußte gleichzeitig als eine direkte Konfrontation mit dem Staat erscheinen.

Marx und Engels führten gegen diese Staatsorientierung der deutschen Sozialdemokratie unter dem Titel des Lassalleanismus einen vergeblichen Kampf. Max Weber, der eine hohe Sensibilität gerade für jene gesellschaftlichen Tendenzen be­saß, in denen sich gegenrevolutionäre Stabilität andeutete, sprach 1907 auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik davon, daß »auf die Dauer nicht die Sozialdemo­kratie die Städte oder den Staat erobert, sondern daß umge­kehrt es der Staat ist, der die Partei erobert«. »Und ich sehe nicht«, fügte Max Weber zur Beruhigung seiner Zuhörer hinzu, »wie die bürgerliche Gesellschaft als solche eine Gefahr darin erblicken soll.«

Wie groß das Selbstbewußtsein der den Militär- und Ver­waltungsapparat dirigierenden preußischen Bürokratie, wel­che mit der Kontinuität gleichzeitig die kollektive Identität garantierte, gegenüber allen revolutionären Ansprüchen gewe­sen ist, zeigt die Äußerung des Admirals von Hintze, der in

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engem Kontakt zur Obersten Heeresleitung stand und ange­sichts des drohenden Zusammenbruchs des Wilhelminischen Reichs eine Parlamentarisierung der Reichsregierung mit der Begründung vorschlug, das sei die »letzte Revolution von oben«, das einzige Mittel, der »Revolution von unten vorzu­beugen«.

Wo bleibt in diesem Spektrum der Liberalismus, der Nähr­boden für die Bildung selbstbewußter staatskritischer Einstel­lungen eines Citoyen? Als das liberale Bürgertum 1848 den Versuch machte, sich politisch zu befreien, stand (ein Blick nach Frankreich zeigte es) bereits die Arbeiterklasse vor der Tür. Indem die bürgerliche Klasse ökonomisch erstarkte, verlor sie das Interesse, die politische Macht zu erobern; zwei Feinde, die Arbeiterklasse und der absolutistische, selbst der institutionelle Staat, wären zuviel gewesen. Seitdem die Pauls­kirchenbewegung gescheitert war, hatte sich die staatsbezoge­ne Versöhnung von Citoyen und Bourgeois endgültig vollzo­gen; ihr Ausdruck und Ergebnis war der Staats-Bürger. Ein möglichst starker Staat, der die Stabilisierung ihres gebroche­nen politischen Selbstbewußtseins versprach, hatte fortan alle Schrecken für die Liberalen verloren.

V.

So ist es denn nicht weiter erstaunlich, daß die Revolutions­vorstellungen des deutschen Bürgers viel mehr mit Verschwö­rungen und mit von Rädelsführern inszeniertem Aufruhr assoziiert sind als mit jenen objektiven Prozessen, wie sie für alle geschichtlich bekannten Revolutionen kennzeichnend sind und gegen die auch gut ausgerüstete Polizei, Geheimdien­ste und die repressiven Gesetze nichts mehr ausrichten kön­nen. In Deutschland meint man, eine Revolution werde »ge­macht«, so wie man eine Brücke baut oder einen Verein gründet oder einen gegenrevolutionären Putsch organisiert. Da jedoch bei Revolutionen die Interessen von Bevölkerungs­mehrheiten im Spiele sein müssen, wenn sie gelingen sollen, vollziehen sie sich prinzipiell nach anderen »Gesetzmäßigkei­ten« als denjenigen, deren man sich bedienen kann, um sie zu bekämpfen oder niederzuschlagen. Aufgrund dieser Verzerrungen und Projektionen hat die


Gewalt der Gegenrevolutionen und der Restaurationen in Deutschland stets ein Element von Übervergeltung, buchstäb­lich von Rache für unbotmäßiges Verhalten, und steht niemals in einem angemessenen Verhältnis der eingesetzten Mittel zur realen Bedrohtheit der Klassenherrschaft. Diese Blutlinie zieht sich durch die gesamte deutsche Geschichte: die Rache an den bereits geschlagenen Bauernheeren, die Jagd auf die deutschen Jakobiner, die Sympathisanten der Französischen Revolution, keineswegs des Terrors waren, die Karlsbader Beschlüsse, welche die sogenannten Demagogenverfolgungen einleiteten, die Sozialistengesetze, der Faschismus, der (sieht man vom Reichstagsbrand ab) besonderer Anlässe eigentlich nicht mehr bedurfte. Was diese Beispiele miteinander verknüpft, ist die Tatsache, daß die gegenrevolutionäre Gewalt in Deutsch­land präventiv eingesetzt wird, so daß die Anlässe beliebig auswechselbar sind. Die gegenwärtige Repressionsphase in der Bundesrepublik Deutschland trägt Züge einer solchen vorbeu­genden Konterrevolution; alle gegen die Linke gerichteten Gesetze haben den Zweck, präventiv zu verhindern, was sich in Italien und Frankreich an sozialistischen und kommunisti­schen Veränderungen der Gesellschaft, auf die sich die Hoff­nungen großer Bevölkerungsteile dort richten, andeutet und was eines Tages auch auf Westdeutschland übergreifen könnte.

Es ist dieses Irreale, Gespenstische der deutschen Restaura­tion, was Marx im Auge hatte, als er sagte: »Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Re­volution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Kon­terrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten.«

Die Protestbewegung der Studenten und Jugendlichen war weit mehr auf das Einklagen bürgerlicher, politischer Frei­heitsrechte als auf Revolution gerichtet. Die Reste dieser Bewegung und die Aktionen einzelner Gruppen müssen nun dazu herhalten, eine neue Gegenrevolution in Deutschland

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einzuleiten. Sie vollzieht sich nicht immer spektakulär. Stellte sich zum Beispiel der Verfassungsschutz bisher in der Regel die Aufgabe, die Verfassungswidrigkeit der Handlungen des Angeschuldigten zu belegen, so muß jetzt häufig der in Ver­dacht Geratene seine positive Verfassungstreue unter Beweis stellen. Das kann er nur durch ein »Globalbekenntnis«. Es bekundet sich hier ein universelles Mißtrauen in die Verfas­sungstreue des ganzen Volkes; von solchem Mißtrauen zehren alle autoritären Systeme. So ist es nur konsequent, wenn der Begriff der verfassungswidrigen Handlung zu dem der verfas­sungsfeindlichen Gesinnung verkürzt wird, der meines Wis­sens weder im Grundgesetz noch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorkommt. Der Staat gewährt, in­dem er nonkonformistische Verhaltensweisen bestraft, Prä­mien auf das Mitläufertum.

Aber es wäre falsch, wollte man über der mit Radikalenerlaß und Berufsverboten verbundenen gegenwärtigen Repressions­phase jene Zeit aus dem Auge verlieren, die für Linke teilweise sehr viel bedrohlicher gewesen ist. Die nach dem KPD-Verbot von 1956 gegenüber Hunderten von Kommunisten und Funk­tionären der FDJ, die wegen Staatsgefährdung oder Vorberei­tung eines hochverräterischen Unternehmens eingesperrt wurden - nicht wenige von ihnen hatten in den Gefängnissen des Dritten Reiches gesessen -, geübte Gewalt war für die Betroffenen mehr als ein bloßes Berufsverbot. Juristisch frag­würdige Formeln wie die von der »Kontaktschuld«, Verurtei­lungen für Vergehen, die vor dem Verbotsurteil lagen, Über­wachung von einzelnen und Organisationen, die in Verdacht geraten waren, mit Kommunisten zusammengearbeitet zu haben oder auch nur in Kontakt getreten zu sein, kennzeich­neten ein Verfolgungsklima, das der McCarthy-Ära durchaus vergleichbar ist. Auch die Gewaltparagraphen des Strafgesetz­buches standen damals bereits zur Diskussion, nicht im Blick auf die Produktion der Schriftsteller und Wissenschaftler, was damals kaum nötig war, sondern um Agitation für Streiks oder gar den Streik selbst den Tatbestandsmerkmalen der Gewalt im Sinne des Paragraphen 80 StGB zu subsumieren.3 Und ist die Rolle, die der Verfassungsschutz in allen Kampag­nen spielte, die sich gegen Remilitarisierung, gegen atomare Bewaffnung der Bundeswehr, gegen die Notstandsgesetze

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richteten, schon vergessen?

Sicherlich, es ist unwahrscheinlich, daß der Faschismus in der alten Form wiederkehren wird. Möglich dagegen ist eine autoritäre Transformation der Gesellschaft, so daß zwar die Institutionen des Parlaments, die Rechtsweggarantien, die von Weisungen der Exekutive unabhängigen Gerichte und die Existenz mehrer Parteien gewährleistet sind, gleichwohl aber ein Klima herrscht, in dem es die politische Meinung des Andersdenkenden, den aufrechten Gang, die formulierten Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht mehr gibt. Ein Schritt auf diesem Wege ist dann getan, wenn Grundgesetz und Kapitalismus praktisch und im Normgehalt des Rechtssystems identisch gesetzt werden; wenn staatliche Behörden festlegen können, daß Sozialismus in jeder mögli­chen Gestalt grundgesetzwidrig sei. Adolf Arndt, ein bedeu­tender sozialdemokratischer Jurist, hat, wohl nicht zufällig in der Zeit des KPD-Verbotsurteils, auf diese subtile Methode der Aushöhlung der Demokratie hingewiesen: »Keine Unter­wanderung des Rechts ist so tückisch und bedrohlich wie eine, die im gestohlenen Mantel des Rechts auftritt und sich legalistischer Mittel bedient.«


(dieser Text als pdf-Datei:
http://media.de.indymedia.org/media/2007/08//192489.pdf)

Anmerkungen

1 Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn Restauration hierzulande im politischen Sprachgebrauch keineswegs die negative Wertigkeit hat, die sich mit diesem Wort in Ländern mit revolutionären Traditionen verbindet. »Restauration ist die Wiederher­stellung eines Staates, welcher durch bürgerlichen Zwist, durch feindliche Besetzung oder andere Ursachen zerrüttet war...« (Vollständiges politisches Taschenwörter­buch, Leipzig 1849).

2 Schiller lag dieses durch und durch konterrevolutionäre Gedicht, wie er an Goethe schrieb, besonders am Herzen. Erste Gedanken zur Glocke formulierte er bereits vor der Französischen Revolution, aber erst 1799 wurde es fertig. Schillers Biograph Emil Palleske, der 1858 eine Biographie schrieb, die bis 1891 13 Auflagen erlebte, sagt über die Glocke: »Der >Glocke<>an die Seite stellen. Vielleicht keine Dichtung ist so tief in unser edleres Bürgertum eingedrungen, ist so sehr eine poetische Verklärung unseres Städtelebens. [. ,.] Der Dichter ist nicht mehr er selbst, es ist das Bürgertum, welches aus ihm singt, des arbeitenden Menschen Wohl und Wehe, zu dem er seine Brust erweitert hat. Alles was dieses Bürgertum ziert, Frömmigkeit, Zucht, Fleiß, Ordnung, der Freiheit Schutz, des Hauses Ehre, klingt voller oder leiser an, die kommenden und gehenden

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Geschlechter, die Gefahr des Elementes, die Revolution, alles was sich ungezwun­gen in den Gesichtskreis des fleißigen, ruhigen Bürgers, des Meisters drängt und an sein Werk anschließt, ist in ebenso einfach kernigen Weisen, als gesteigerten Schilderungen eingewebt.« Emil Palleske, Schillers Leben und Werke, Stuttgart 1891, Bd. 2, S. 278 ff.

3 Die wichtigsten Analysen zu diesen Zusammenhängen finden sich bei Wolf­gang Abendroth, Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt/M.-Köln 1975.