12.09.2007

Überblick - Schlüsselsätze


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1976 fragte O. Negt, „warum die Deutschen keine ‚Marseillaise’ haben“. Seine Antwort: „Weil es auf deutschem Boden nie die konkrete Erfahrung einer wirklichen … Revolution gegeben hat.“ Aber was ist los mit „den Deutschen“? Warum gab es hier nie eine Revolution? Und welche Folgen hatte dies – außer der von Negt genannten?
Die hiesigen Texte bemühen sich um historische (d.h.: nicht essentialistische) Antworten und beschäftigen sich dabei v.a. mit Besonderheiten des deutschen Rechtssystems.


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1. Warum die Deutschen keine ‚Marseillaise’ haben

S. 18: „Die ‚deutsche Frage’ ist wieder aktuell, wenn auch unter veränderten Vor­zeichen; und sie war immer eine Frage der Restauration. Warum ist die deutsche Geschichte so reich an Restauratio­nen? Eine vielleicht nicht voll befriedigende, aber doch an vielen Symptomen empirisch belegbare Antwort lautet: Weil es auf deutschem Boden nie die konkrete Erfahrung einer wirklichen, auch in Volkstraditionen und in der Kultur der Gesamtgesellschaft sich niederschlagenden Revolution gegeben hat.“

S. 27: „Es bekundet sich hier [in der Praxis des bundesdeutschen Verfassungsschutzes] ein universelles Mißtrauen in die Verfas­sungstreue des ganzen Volkes; von solchem Mißtrauen zehren alle autoritären Systeme. So ist es nur konsequent, wenn der Begriff der verfassungswidrigen Handlung zu dem der verfas­sungsfeindlichen Gesinnung verkürzt wird, […].“

pdf-Datei: http://media.de.indymedia.org/media/2007/08//192489.pdf


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2. Eine „Republik“, die sich ihrer revolutionären Entstehung schämt (Weimar) oder gar keine hat (Bonn/Berlin), hat als Demokratie bereits abgedankt

S. 140 f.: „In den liberalen Gedankenschmieden der ‚Göttinger [Sieben]’ und ihrer Wahlverwandten wurden die ihrer Souveränität verlustig gegangenen Fürsten sozusagen beerbt. Souveränität, als Rechtlosigkeit par excellence die unbegrenzte Illegalitätsreserve vorkonstitutionellen Regierens, wurde nun selbst konstitutionalisiert und als ‚legalisierte Illegalitätsreserve ein anonymes Verfassungsinstitut […], als welches sie im Neo-Konstitutionalismus […] der BRD neue Blüten getrieben hat. Dazu gehört die nach ausschließlich politischen Werturteilen erfolgende rechtswidrige Zerlegung des grundgesetzlichen Verfassungsrechts in mehrere hierarchisch übereinander geschichtete Geltungsebenen. So gibt es auf einer untersten Ebene die das demokratische Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) respektierende Gleichbehandlung legalen Verhaltens. Auf einer höherrangigen und nach unten durchschlagenden Ebene werden hingegen Rechtsgenossen negativ privilegiert, die politisch als negativ, insbesondere als revolutionsträchtig eingeschätzte Überzeugungen und Forderungen vertreten und deswegen als ‚Verfassungsfeinde’ gelten, auch wenn sie sich völlig legal verhalten. Diese Ungleichheit vor dem Gesetz ist vom Bundesverfassungsgericht, […], als rechtens anerkannt […] und mit einer […] ‚abwehrbereite Demokratie’ begründet worden, die – es ist alles Wunder und Zauberei – durch Verkürzung demokratischer Freiheiten noch demokratischer werden soll. […]. Als Exportschlager des „Modells Deutschland“ dem „Westen“ angedient, ist es dort nicht auf Gegenliebe, sondern auf Unverständnis gestoßen. Dieses Unverständnis beruht auf der Überzeugung, daß Demokratie um den Preis der dauernden Preisgabe ihrer Risiken nicht zu haben ist (wie mit dem ihr zur Verfügung stehenden ‚Ausnahmezustand’ eine Republik umzugehen hat, zeigte de Gaulle anläßlich der Putschbereitschaft französischer Offiziere in Algerien: durch die auf ihre Signalwirkung beschränkte kürzestfristige Verhängung).“ (fette Hv. d. Admin.)

pdf-Datei des vollständigen Textes: http://media.de.indymedia.org/media/2007/09//194048.pdf


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3. Der deutsche Rechtsstaat

Sp. 2806: „Vorweg ist festzuhalten, daß der R[echtsstaat] eine Begriffsbildung der deutschen Staatslehre des 19. Jhs. ist. Dieser R. soll den Staat im Interesse der bürgerl. Gesellschaft unter obrigkeitsstaatl. Bedingungen beschränken. So unterscheidet sich der R. von vornherein von der britischen Rule of Law, die nicht nur als ein den Staat begren­zendes, diesen vielmehr auch konstituierendes (repräsentativstaatl. bzw. demokratisches) Prin­zip gemeint ist.“ (fette Hv. d. Admin.)

Sp.2811: „er Obrigkeitsstaat ruht in sich selber, […], wird also durch den R. bloß nachträglich begrenzt […] der deutsche R. des 19. Jhs. [bekommt] den Charakter einer Defensivveranstaltung.“

Sp. 2817 f.: „Zu schweren Bedenken gibt [...] ein Bedeutungswandel des R.begriffs Anlaß, der etwa seit 1975 aufgekommen ist, […], ein Begriffswandel, der die R.idee nicht mehr, wie bis dahin, gegen den Staat, son­dern nun gegen Private wendet, nicht nur gegen Terroristen, sondern auch etwa gegen Teilneh­mer von Demonstrationen, an denen es zu Sach­beschädigungen kommt, sowie gegen an Gelän­debesetzungen Beteiligte. [… es] wird dann im Namen des R.(!) mehr und mehr eine Verstärkung des polizeili­chen Repressions- und Überwachungsinstru­mentariums gefordert. Damit wird der Begriff des R. in sein Gegenteil verkehrt: ‚nicht mehr Schutzschild des Einzelnen in seiner Rolle als Störer oder Rechtsbrecher gegen unbegrenzte staatliche Prävention und Repression, sondern Legitimierung extensiver Sicherheitsmaßnahmen’ (F. Endemann). Oder ist dieser Begriffs­wandel vielleicht doch nur konsequent?“

pdf-Datei des vollständigen Textes: http://media.de.indymedia.org/media/2007/09//194049.pdf


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4. Von Weimar nach Bonn/Berlin: Vom fallweise-exzeptionellen zum ideologisch-permanenten Notstand

S. 74 f.: „Das Verhältnis von Staat und »Gesellschaft« (den Individuen und den sozialen Organi­sationen und Institutionen) ist mithin in der für die parlamentari­sche Ideologie charakteristischen Weise ideologisch derart strukturiert, daß der Staat als Mittel erscheint, mit dessen Hilfe sich die »spontane Homogenität« der sich und ihre Interessen als Zwecke des Staats set­zenden gesellschaftlichen Kräfte herstellen und reproduzieren kann. Damit baut diese Ideologie auf das Funktionieren außerordentlich vor­aussetzungsreicher Prozesse politisch-ideologischer Vereinheitlichung und Konsensbildung in der Gesellschaft, das erst die pluralistische Ver­mittlung der Praxis des Staats, ihre Synchronisation mit der freiwilligen Zustimmung der maßgeblichen politischen Fraktionen ermöglicht. Problematisch waren diese Voraussetzungen in »Weimar« schon des­halb, weil sich derartige pluralistische Mechanismen und Ideologien in der (»besonderen«) deutschen Tradition kaum hatten herausbilden können, in der die Durchsetzung und Befestigung der bürgerlichen Ideologie auf spezifische Hindernisse gestoßen war: Der bürokratisch-militärische »Obrigkeitsstaat« des 19. Jahrhunderts hatte seine Praxis weniger auf spezifisch bürgerliche Ideologien und sozialintegrative Po­litikformen, in denen sich die »spontane Homogenität« der gesell­schaftlichen Kräfte herstellen kann, als auf von ihm selbst kraft seiner Autorität definierte und gegen seine »Feinde« verteidigte »hermeti­sche« Ordnungskonzepte gestützt, die sich an die Individuen richteten, deren Ein- und Unterordnung (nicht freiwillige Einigung) sie bean­spruchten.“

S. 75: „All dies führte [ansatzweise bereits] in »Weimar« […] zu einer […] in die Defensive gedrängten parlamentarischen Ideologie: zu einer deutli­chen Tendenz, das Pluralismuskonzept aus einem auf die empirischen politischen Verhältnisse bezogenen Struktur- und Verfahrensmodell in eine für alle politisch agierenden Subjekte verbindliche »restriktive« po­litisch-weltanschauliche Ethik umzumünzen“

S. 76: Sie sucht „sich weniger an realen politischen Verfahrensweisen und empiri­schen politischen Prozessen als vielmehr an einem abstrakten »relativi­stischen« philosophischen Konzept zu legitimieren […], das dazu ten­diert, Verhaltens- und Gesinnungsimperative an die politisch agieren­den Subjekte zu adressieren. Es geht ihr - Indiz ihrer Schwäche - nicht so sehr darum, die konkrete Nützlichkeit der parlamentarischen Institu­tionen und Methoden für die empirischen Individuen unter den konkre­ten politischen Bedingungen darzutun, sondern vor allem darum, deren überhistorische Notwendigkeit oder »Richtigkeit« »erkenntniskritisch« abzuleiten.“

S. 78, 79: „»Die Demokratie ihrerseits setzt den Relativismus voraus.« […]. Relativismus ist die allgemeine Toleranz - nur nicht Toleranz gegenüber der Intoleranz«. Es war vor allem dieses ideologische Konzept, dem nach 1945 die Auf­gabe zufiel, die repressive politische Praxis des Staats zu legitimieren. Dazu war es deshalb besonders geeignet, weil es die Möglichkeit eröffnete, den Bruch mit der Vergangenheit des (diktatorischen) faschi­stischen wie des (»schwachen demokratischen«) »Weimarer« Staats hervorzuheben, zugleich aber an die politisch repressiven Traditionen antidemokratischer deutscher Staatlichkeit anzuknüpfen.“

S. 70: „Das Spezifische und gegenüber »Weimar« Neue aber besteht darin, daß der westdeutsche Staat, zudem von Rechts wegen, die Kompetenz beansprucht, bestimmte politische Richtungen generell politisch zu eliminieren, sie ein für allemal von der Bühne des Politi­schen zu verbannen. Die politische Repression hat hier die situativen, okkasionellen Momente zurückgedrängt, durch die sie in der Vergan­genheit charakterisiert war; sie hat sich von den konkreten Umständen und Risiken konkreter veränderlicher Situationen abgelöst und ist, an­ders als in den überkommenen Notständen, Ausnahmezuständen und polizeilichen Gefahrensituationen, von bestimmten Gefahren und deren politischer Bewertung weithin unabhängig. Die »freiheitliche demokratische Grundordnung« legitimiert ihre Repressionen nicht an den Besonderheiten bestimmter Situationen und Zustände, sondern auf einer allgemeinen ideologischen Ebene.“ (fette Hv. d. Admin.)

pdf-Datei: http://media.de.indymedia.org/media/2007/09//194050.pdf


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5. Allein in Deutschland: Der strafprozessuale Kult um die „materielle Wahrheit“ – zulasten der Verfahrensrechte der Beschuldigten

S. 537: „The German bourgeoisie was never strong enough to carry through a thoroughly liberalized criminal procedure.

S. 522: „Das deutsche Strafverfahren hat – nach Auffassung unserer Strafprozeßlehre – al­len anderen Verfahrenskonstruktionen, vor allem der angelsächsischen, voraus, daß es der Wahrheitsfindung dient. Darin, wird behauptet, liege der Vorteil speziell für den Beschuldigten, dem letztendlich mit der Wahrheit mehr gedient sei als mit for­malistischer Einhaltung seiner prozessualen Rechte.“ „Die Strafprozeß-Autoren verwickeln sich bei der Darstellung der Vor- und Nach­teile beider Verfahrenstypen freilich in offenkundige Widersprüche. So meint Henkel, der beredt vor der ‚entschiedenen Schlechterstellung’ des Beschuldigten im angelsächsischen Prozeß warnt: ‚Die im Parteiverfahren größere Gefahr unvoll­kommener Durchdringung des Sachverhalts, also mangelhafte Tataufklärung, wird sich vielfach zugunsten des Beschuldigten – damit allerdings zu Lasten der Rechts­gemeinschaft – auswirken’“

S. 523: „Angelsächsische Kritiker bezeichnen das deutsche Verfahren daher auch als ‚Inqui­sitionsprozeß’. Nicht ganz zu Unrecht, denn dem deutschen Strafprozeß ist es nie gänzlich gelungen, sich vom obrigkeitlichen Inquisitionsprozeß zu lösen“.

S. 537: „Today, the courts as well as criminal jurisprudence declare the assumption of a defendant’s innocence until proven guilty and the equal regard for prosecution and defence in court (both rights upheld by the European Human Rights Commission) both as beeing incompatible with ‘our procedural structure’ and thus invalid. Indeed sometimes all the rights of the defendant in court are declared incompatible with the establishment of the truth.”

pdf-Datei:

http://media.de.indymedia.org/media/2007/09//194051.pdf


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6. Verrechtlichung der politischen Repression - ein deutscher Alleingang

Verrechtlichung der politischen Repression - ein deutscher Alleingang


Das Spezifische [...] besteht darin, daß der [...]deutsche Staat, [...] von Rechts wegen die Kompetenz beansprucht, bestimmte politische Richtungen generell politisch zu eliminieren, sie ein für allemal von der Bühne des Politi­schen zu verbannen. Die politische Repression hat hier die situativen, okkasionellen Momente zurückgedrängt, durch die sie in der Vergan­genheit charakterisiert war; sie hat sich von den konkreten Umständen und Risiken konkreter veränderlicher Situationen abgelöst und ist, an­ders als in den überkommenen Notständen, Ausnahmezuständen und polizeilichen Gefahrensituationen, von bestimmten Gefahren und deren politischer Bewertung weithin unabhängig. Die »freiheitliche demokratische Grundordnung« legitimiert ihre Repressionen nicht an den Besonderheiten bestimmter Situationen und Zustände, sondern auf einer allgemeinen ideologischen Ebene.“

(Friedhelm Hase, »Bonn« und »Weimar« Bemerkungen zu der Entwicklung vom »okkasionellen« zum »ideologischen« Staatsschutz, in: Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft hrsg. von Dieter Deiseroth / Friedhelm Hase / Karl-Heinz Ladeur, EVA: Frankfurt am Main, 1981, 69 – 84, hier: 70; fette Hv. d. Admin.)

„[…] kein Schwur der unter dem Banner des ‚Menschenbildes des Grundgesetzes’ das ökonomische System Verteidigenden ist wahrer als der ‚antifaschistische’. Das Abschwören an das erwiesenermaßen mit zu hohen Kosten verbundene – und daher auch in seinen drei letzten südeuropäischen Refugien liquidierte – ungesicherte Kooperieren mit den Machthabern eines sich verselbständigenden politischen Systems teilen sie mit den Bundesbrüdern im übrigen Europa. Das Einschwören auf die Verrechtlichungsstrategie ist ihr deutscher Alleingang, […]. Die Methode der Beorderung einer sich dabei selbst immer neu überschlagenden und unterlaufenden Justiz zum Löschen demokratischer Brandherde kann nicht in Länder exportiert werden, die die deutsche Hochzeit von Recht und Politik nicht vollzogen haben und deshalb keine Justiztradition verwalten, für die ein politisch unerwünschter und daher in der politischen Beurteilung als ‚Mißbrauch’ erscheinender Gebrauch von Rechten auch rechtlich zum ‚Mißbrauch’ wird. Diese Länder bedürfen auch der Segnung mit den Folgen nicht. Um dies abschließend noch einmal anhand des Beispiels der sogenannten Berufsverbote klarzumachen: 300 Fälle von ‚Berufsverbot’ in einem westeuropäischen Land, wo keine Bücher verbrannt worden sind, sind 300 Fälle von entweder rechtswidrigen oder gesetzlich gedeckten Maßnahmen, wobei die Rechtswidrigkeit erkannt und öffentlich kritisiert bzw. das nicht zementierte Gesetz rechtspolitisch angegriffen werden kann. 300 Fälle von ‚Berufsverbot’ in der Bundesrepublik sind Vollstreckung des höchsten Gebots der Verfassung einer ‚wehrhaften Demokratie’ in einem Land, wo ‚der Rechtsstaat verteidigt’ wird, wenn die politische Option einer Gesellschaftsfraktion sich unter Umgehung der Volksvertretung durch rechtswidrige Verrechtlichung in allgemein verbindliche öffentliche Gewalt umsetzt. Das läßt sich nur nachvollziehen in einem Land, wo zuvor mit jeder politischen Maßnahme ‚das Recht geschützt’ wurde und die dies tragende Ausdünnung des politischen Bewußtseins noch nicht überwunden ist. Das führt zu einer Selbstzensur – und betrifft daher über die 300 ‚Betroffenen’ hinaus alle –, an deren Einrichtung die Länder ohne eine moderne Geschichte der Bücherverbrennung nicht interessiert sind.“

(Helmut Ridder, Vom Wendekreis der Grundrechte, in: Leviathan 1977, 467 – 521, hier: 520 f.; fette Hv. d. Admin.)